22. Januar 2022

Sind Evangelikale Fundamentalisten?

Quelle: idea.de

USA-Experte Professor Michael Hochgeschwender: Fundamentalisten sind streitbar, aber meist nicht gewalttätig. Foto: PR

München (idea) – Nicht jeder Evangelikale ist Fundamentalist, aber jeder Fundamentalist, der die Bibel wörtlich nimmt, ist evangelikal. Diese Ansicht vertrat der Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie, Michael Hochgeschwender (München), in einem Interview mit dem Humanistischen Pressedienst.

Hochgeschwender zufolge suchen Evangelikale in einer Art endzeitlichem Enthusiasmus „eine unmittelbare Beziehung zu Gott durch Jesus Christus im Wort der Bibel“. Fundamentalisten teilten diesen Enthusiasmus und lehnten zugleich jede Form der Bibelauslegung ab, die sich nicht am als unfehlbar angesehenen Wortlaut ausrichte. Hochgeschwender: „Sie sind streitbare, militante (in aller Regel aber nicht gewalttätige) Evangelikale.“ Es gebe durchaus evangelikale Theologen, die die Ergebnisse der liberalen historisch-kritischen Methode und auch eine gemäßigte Form der Evolutionslehre akzeptierten.

Evangelikale mobilisieren ihre Anhänger

Nach Hochgeschwenders Worten ergibt sich die Macht evangelikaler Christen in den USA aus der Fähigkeit, ihre Anhänger zu mobilisieren. Allerdings sei es ihnen bisher nicht gelungen, ihre Ansichten im ganzen Land durchzusetzen, etwa in der Abtreibungsfrage oder beim Verbot der „Homo-Ehe“. Erfolge erzielten sie höchstens in einzelnen Bundesstaaten. Hochgeschwender zufolge betonen Evangelikale besonders die Freiheit des Marktes und des Einzelnen. So seien sie dagegen, dass der Staat sich der Armen annehme. Dies sei nach evangelikaler Auffassung eine zentrale Aufgabe christlicher Gemeinden. Allerdings befürworteten „Linksevangelikale“ meist den Ausbau des Wohlfahrtsstaates, etwa die von US-Präsident Barack Obama geplante allgemeine Krankenversicherung. Zu den Linksevangelikalen seien etwa 30 bis 40 Prozent aller Evangelikalen zu rechnen, darunter etwa der Baptist und ehemalige US-Präsident Jimmy Carter. In hohem Maße umstritten seien unter US-Evangelikalen die Themen Umweltschutz und Klimawandel. Unter Jüngeren zeichne sich jedoch eine erhöhte Bereitschaft ab, diese Fragen zu diskutieren.

Viel Streit in der „christlichen Rechten“

Die „christliche Rechte“ sei in sich viel zerstrittener als sie nach außen erscheine. Hochgeschwender: „Die diversen Führungsfiguren harmonieren oft nicht besonders gut miteinander, sei es aus machtpolitischen, sei es aus theologischen Gründen.“ Zudem hätten Untersuchungen ergeben, dass das religiöse Wissen auch unter jenen, die täglich die Bibel lesen, oft „verheerend schlecht“ sei. Allerdings stehe für gläubige Amerikaner nicht die Rechtgläubigkeit, sondern das rechte Handeln im Vordergrund. US-Evangelikale seien deshalb im Alltag wesentlich umgänglicher und toleranter, als es ihre religiösen Einstellungen vermuten ließen. Bei seinen Besuchen in den USA habe er sehr lebendige und politisch-gesellschaftlich heterogene Gemeinden kennengelernt, die meist von einem charismatischen Pastor zusammengehalten würden. Sie entsprächen nicht dem Bild fanatischer und verblödeter Christen, das man sich oft von Evangelikalen mache.