Quelle: idea.de
Köln/Frankfurt am Main (idea) – Ist die türkische Demokratie ein Vorbild für andere islamische Länder? Diese Ansicht deutscher Politiker stößt auf Kritik und Widerspruch. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ hatte Bundespräsident Christian Wulff die Türkei als Beispiel dafür genannt, „dass Islam und Demokratie, Islam und Rechtsstaat, Islam und Pluralismus kein Widerspruch“ sein müssten.
Ähnlich äußerte sich der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen). Bei einem Empfang für den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül in Stuttgart sagte er, dass die Türkei den Weg der Demokratisierung beständig weitergehe. Diese Einschätzung zeige „Kritiklosigkeit im Umgang mit dem Islam“, schreibt dazu der jüdische Publizist Ralph Giordano (Köln) in der Tageszeitung „Die Welt“. Wulffs Äußerung verrate „eine verstörende Unkenntnis des Wirklichkeit, eine derart blauäugige Gleichsetzung des real existierenden Islam mit einem EU-konformen Islam, dass es einem die Sprache verschlagen will“. Giordano erinnert daran, dass Gül den Völkermord an den Armeniern 1915/1916 leugne und sich immer offener als Gegner Israels erweise.
IGFM: Viele unerfüllte Versprechungen
Auch die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main widersprach Wulff und Kretschmann. Weder die Verfassung noch der politische Alltag in der Türkei entsprächen den Erwartungen an eine Demokratie, sagte der Referent für Religionsfreiheit, Walter Flick, gegenüber idea. In der Verfassung würden Minderheiten, etwa Kurden oder Christen, keine Rechte garantiert. Auch werde die Pressefreiheit nicht geschützt. Zahlreiche Journalisten befänden sich wegen regierungskritischer Artikel im Gefängnis. Gegen 700 Medienschaffende liefen zurzeit Verfahren. Durch eine Verfassungsänderung wolle der türkische Ministerpräsident Recep Tayip Erdogan seine Stellung stärken. Laut Flick sind viele Versprechungen zur Verbesserung der Menschenrechtssituation bisher unerfüllt geblieben. So bleibe das Priesterseminar der griechisch-orthodoxen Kirche geschlossen, obwohl die Regierung wiederholt die Öffnung angekündigt habe. Auch auf eine Rückgabe enteigneter Immobilien warteten armenischen und griechisch-orthodoxen Christen bisher vergeblich. Allerdings sei die Türkei nicht mit anderen islamisch geprägten Ländern vergleichbar. So bestehe in der Türkei die Möglichkeit, alle vier Jahre eine neue Regierung zu wählen – anders als etwa in Saudi-Arabien, wo der Monarch lebenslang sowohl Staatsoberhaupt als auch Regierungschef ist.