Quelle: idea.de
Kassel/Hannover (idea) – Seelsorger und Therapeuten schlagen Alarm: Rund 560.000 Menschen in Deutschland sind abhängig vom Surfen oder Spielen im Internet.Das ergab eine Studie der Universitäten Lübeck und Greifswald im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums. Besonders gefährdet sind Jugendliche und junge Erwachsene. In der Gruppe der 14- bis 16-Jährigen sind Mädchen häufiger von der Sucht betroffen als Jungen. Bisher galten vor allem junge Männer als anfällig. Die Forscher erklären die steigende Zahl der betroffenen Mädchen mit dem wachsenden Einfluss sozialer Netzwerke wie Facebook. Weibliche Surfer verbrächten dort rund 77 Prozent ihrer Zeit im Internet, Jungen dagegen nur 66 Prozent. Wie bewerten evangelische Experten die Internetsucht und wie können sie helfen? Der Leiter des Fachverbandes für Sexualethik und Seelsorge Weißes Kreuz, Rolf Trauernicht (Ahnatal bei Kassel), und der Diplompädagoge Eberhard Freitag von der Beratungsstelle für exzessiven Medienkonsum „return“ (Hannover), äußerten sich dazu gegenüber der Evangelischen Nachrichtenagentur idea. Nach ihren Angaben reichen die Symptome der Sucht vom Kontrollverlust über die im Internet verbrachte Zeit bis hin zur kompletten Verwahrlosung. Betroffene vernachlässigten ihre Alltagsaufgaben. In extremen Fällen gingen sie nicht mehr zur Schule oder zur Arbeit. Beziehungen und soziale Kontakte würden immer weniger gepflegt. Internetsüchtige lebten fast ausschließlich in einer virtuellen Welt.
Die Ursachen der Sucht
Trauernicht: „Wir erhalten täglich E-Mails vor allem von jungen Menschen, die Hilfe suchen.“ Lebensfrust, Langeweile und Gefühle der Überforderung seien wesentliche Ursachen der Mediensucht, die der Betroffene mit seinem Konsum – oft unbewusst – übertünchen wolle. Trauernicht hat schon weit über 100 Fälle betreut. An ihn wenden sich sowohl Christen als auch Personen ohne Kirchenbindung. Da mediale Süchte eine geistige Herausforderung seien, müsse man ihnen durch Gebet geistlich begegnen, so Trauernicht. Hier liege eine spezielle Aufgabe für Christen in der Seelsorge und Therapie. Gemeinden sollten sich mit der Internetsucht beschäftigen und über deren Folgen aufklären. Freitag zufolge stellt die Beratungsstelle „return“ – eine Einrichtung des freikirchlichen Diakoniewerks Kirchröder Turm in Hannover – jedes Jahr eine Verdoppelung der Beratungsfälle fest. Derzeit betreut das Zentrum rund 100 Betroffene. Dass vor allem Kinder und Jugendliche gefährdet sind, begründet Freitag so: „Sie bekommen im Netz viel leichter Erfolg und Bestätigung als im wirklichen Leben. Die Frage nach dem Umgang mit realen Problemen und möglichem Scheitern stellt sich im Internet kaum.“
„Programmdiakone für Kinderschutz“ benennen
Die beiden Experten raten Eltern, Schutzprogramme auf dem Computer ihrer Kinder zu installieren, denn diese kämen meist zufällig auf problematische Seiten. Eltern müssten die Zeiten am PC mit den Kindern klar festlegen. Trauernicht regt an, in Gemeinden „Programmdiakone für Kinderschutz“ zu ernennen. Sie sollten bei der Installation der Schutzprogramme helfen und das Thema auf die Tagesordnung setzen. „return“-Leiter Freitag empfiehlt als Vorbeugung gegen Internetsucht eine attraktive Jugendarbeit in den Gemeinden. Heranwachsende brauchten Betätigung im realen Leben. In Gruppen könnten sie lernen, Verantwortung zu übernehmen, sich selbst richtig einzuordnen und durch soziale Kontakte die nötige Anerkennung zu erhalten. „return“ bietet Gemeinden Fortbildungen zum Thema an. Kritisch sieht Freitag, dass in der Studie des Bundesgesundheitsministeriums die Onlinepornografie nicht vorkommt. Dabei wachse die Zahl der Männer, bei denen der Besuch von Pornoseiten ausufere. Diese Auffassung teilt auch Trauernicht. Er schätzt, dass 70 Prozent der Onlineabhängigen zumindest auch internetpornosüchtig sind.