Quelle: jungefreiheit.de
Von Paul LeonhardDie Zahl der Asylbewerber in Deutschland steigt seit Monaten kontinuierlich an, und die Entwicklungen in Nordafrika sowie der Streit innerhalb der EU über eine Aufnahme der Flüchtlinge deuten darauf hin, daß sich die Lage in nächster Zeit noch verschärfen wird.
Gleichzeitig heben immer mehr Bundesländer die sogenannte Residenzpflicht für Asylbewerber auf. Diese war 1982 unter anderem eingeführt worden, um ein Untertauchen von Ausländern zu erschweren. Nachdem bereits im vergangenen Jahr Brandenburg und Berlin die Regelungen gelockert hatten, nach denen die entsprechenden Ausländer bestimmte Landkreise nicht verlassen dürfen, folgte Anfang April das schwarz-gelb regierte Schleswig-Holstein. Zuvor hatte das ebenfalls von einer CDU/FDP-Koalition regierte Sachsen im Januar die Bewegungsfreiheit von Ausländern auf den gesamten Freistaat ausgeweitet.
Bisher durften Asylbewerber nur mit Ausnahmegenehmigungen den Landkreis, in dem sie untergebracht waren, verlassen. „Mir ist daran gelegen, pragmatische Lösungen zu finden, ohne falsche Anreize zu setzen“, begründete Innenminister Markus Ulbig (CDU) sein Vorgehen und dürfte dabei vor allem den geringeren Verwaltungsaufwand im Blick haben. Trotzdem ist die Abkehr Schleswig-Holsteins und Sachsens von der Regelung erstaunlich. Denn bislang war Deutschland bestrebt, die in der EU einmalige Residenzpflicht anderen Schengen-Ländern zur Nachahmung zu empfehlen.
Ausländerpolitischen Spielwiese
Doch der Widerstand gegen die Regelung wächst seit Jahren, nicht nur in Sachsen. Die Argumente sind dabei immer die gleichen. Die Residenzpflicht sei „absolut anachronistisch“, kritisierte etwa die Leipziger Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe (SPD). Sich innerhalb eines Landes frei bewegen zu können, sei ein Menschenrecht, das auch Flüchtlingen zusteht. Kolbe gehört zu den Unterstützern einer von mehr als 11.000 Bürgern unterzeichneten Petition, die die Aufhebung der Residenzpflicht für Asylbewerber fordert.
Auf der ausländerpolitischen Spielwiese versucht sich auch der gescheiterte sächsische Wirtschaftsminister Martin Gillo zu profilieren. Obwohl die Christdemokraten ihren Parteifreund mit einem Landtagsmandat und dem Amt des Ausländerbeauftragten versorgten, ist dieser zur willigen Speerspitze von Linkspartei und Sozialdemokraten geworden. So griff er auch vor einem knappen Jahr bereitwillig deren Forderungen nach einer Aufhebung der Residenzpflicht auf. Da geduldete Asylbewerber in ihrer Bewegungsfreiheit an einen Ort gebunden sind, könnten diese weder Verwandte besuchen noch eine ortsferne Ausbildung absolvieren, klagte Gillo.
Von einer Ausdehnung der Bewegungsfreiheit auf ganz Sachsen „profitieren wir alle“, behauptete er in seinen „sieben Anregungen für ein weltoffeneres Sachsen“. Gillo übernimmt dabei die Argumentation der „Kampagne gegen Ausgrenzung von Asylbewerbern“, für die die Residenzpflicht „struktureller Rassismus“ ist. Vorbild für die Gesetzesänderung ist Brandenburg. Dort dürften „Asylbewerber zu Besuchszwecken sogar bis nach Berlin“, erinnerte Gillo.
„Ausweitung der Bewegungsfreiheit hat keine negative Konsequenz“
Auch habe die „Ausweitung der Bewegungsfreiheit in anderen Bundesländern keinerlei negative Konsequenz“ gehabt. Zahlen nennt er lieber nicht. Diejenigen, die tatsächlich vor Ort mit Asylbewerbern zu tun haben, finden kein Gehör. Die unteren Ausländerbehörden warnen seit geraumer Zeit davor, daß Asylbewerber und geduldete Ausländer nun leichter untertauchen könnten.
Auch in anderen Bundesländern wird derzeit über eine Aufweichung der Residenzpflicht gestritten. In Bayern stimmte im März der Sozialausschuß des Landtages einem Antrag von CSU und FDP zu, daß Asylbewerber sich im Regierungsbezirk und angrenzenden Landkreisen frei bewegen können. In Nordrhein-Westfalen wurden die Regelungen bereits gelockert, in Berlin abgeschafft. In Thüringen scheiterte eine entsprechende Initiative im Landtag.
Doch die Gegner lassen nicht locker: In einem Aufruf machte die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland darauf aufmerksam, daß Asylbewerber nur dann unabhängige Beratungsstellen sowie Ärzte aufsuchen könnten, die auf die Behandlung von Flüchtlingen spezialisiert sind, wenn die Residenzpflicht gekippt werde.
JF 18/11