23. Oktober 2021

Die Grünen können vor Kraft kaum noch laufen

Quelle: jungefreiheit.de

Foto: Gerda Mahmens / www.pixelio.de

Politik ist vergänglich. Oder wie Bundeskanzler Konrad Adenauer es formulierte: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“ Gleiches scheint auch für Bündnis 90/ Die Grünen zu gelten, die derzeit vor Kraft kaum noch laufen können. Rund 20 Prozent der Stimmen werden derzeit für die Ökopartei in deutschlandweiten Umfragen ermittelt, in Berlin könnte die designierte Spitzenkandidatin Renate Künast im kommenden Jahr den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ablösen.
 

Angesichts dieser verlockenden Zahlen vergessen die Spitzenfunktionäre ihre Planspiele, mit denen sie sich noch vor Jahresfrist beschäftigt hatten. Da galt das schwarz-grüne Bündnis in der Hansestadt Hamburg als Modell und die Jamaika-Koalition im Saarland als Normalität. Doch nach dem Abschied von Hamburgs Erstem Bürgermeister Ole von Beust (CDU) kokettiert die Partei offen mit einem Koalitionsbruch.

Geschickt wurde vor kurzem aus dem Grünen-Umfeld lanciert, der Beust-Nachfolger Christoph Ahlhaus sei Mitglied in der schlagenden Verbindung „Ghibellinia Heidelberg.“ Der als CDU-Hardliner bezeichnete bisherige Innensenator ruderte artig zurück, bat den Vorsitzenden der als liberal geltenden Turnerschaft eilig, ihn aus den Mitgliederlisten zu streichen.

Höhenflug in der Bundeshauptstadt

Doch die Grünen ließen bereits genüßlich verlauten, daß es nur sehr schwer vorstellbar sei, einen Verbindungsstudenten zum Bürgermeister zu wählen. Diese Distanz hat gute Gründe. Gäbe es jetzt an der Elbe Neuwahlen, könnte Rot-Grün unter Führung des SPD-Mannes Olaf Scholz auf eine satte Mehrheit hoffen. Dabei galt die frühere Traumkonstellation unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer noch vor einigen Monaten als Auslaufmodell.

Doch spätestens seit Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Tolerierung der Linkspartei ins Amt hievte, reifen neuerliche Blütenträume von einem Comeback. Dabei profitieren die Grünen wie keine andere Partei von der Schwäche der schwarz-gelben Koalition.

Vor allem in der Bundeshauptstadt deutet alles auf eine Regierungsbeteiligung der Grünen hin. Bis zu 25 Prozent werden ihnen derzeit vorhergesagt, dies sind nur zwei Punkte weniger, als für die SPD gemessen werden. Kein Wunder also, daß Renate Künast ein Bündnis mit der Union kategorisch ausschließt und es „auf Grund der Zahlen ohnehin als unrealistisch“ einstuft.

Doch die einstigen Ökofundamentalisten laufen Gefahr, den Bogen zu überspannen. Galt die FDP noch vor einem Jahr als Alternative für frustrierte Bürgerliche, so nehmen die Grünen derzeit die Rolle ein. Doch Parteichef Jürgen Trittin spricht gerne von „Überzeugungswählern“: „Ich sehe nicht, wo wir ein Protestpotential einsammeln könnten.“

Doch Wähler sind bekanntermaßen wie Flugsand. Heute hier, morgen dort. Dies müssen gerade die Liberalen leidvoll am eigenen Leib erfahren. Daß es eine Wählerwanderung von Gelb zu Grün gibt, überrascht die Meinungsforscher nicht sonderlich. Gerade in urbanen Milieus rekrutieren beide Parteien ihre Sympathisanten mittlerweile vor allem aus dem Bürgertum. Laut Ex-Minister Trittin werden die Grünen von jenen gewählt, die einen hohen Bildungsstandard haben, die aber im Gegensatz zur FDP solidarisch gesinnt seien.

Spannend dürfte es vor allem im kommenden Frühjahr in Baden-Württemberg werden. Dort kämpft die schwarz-gelbe Koalition unter Führung von Stefan Mappus ums politische Überleben, was auch im Südwesten vor allem mit der Schwäche der FDP zusammenhängt. In Stuttgart erzielten die Grünen bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr ein Rekordergebnis von mehr als 20 Prozent. Genüßlich können sie deshalb die CDU vor sich hertreiben. „Herr Mappus ist ein Atomkraftbefürworter. Außerdem gilt er als Hoffnungsträger der traditionellen CDU-Basis. Für uns kann er deswegen kein optimaler Partner sein“, sagte Trittin.

Scheu vor der Linkspartei

Renate Künast, derzeit Fraktionsvorsitzende im Bundestag spricht gar davon, daß der Versuch von Angela Merkel, die Union als moderne Großstadtpartei zu positionieren, gescheitert sei. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Angesichts der steigenden Zustimmung brauchen die Grünen die Union für schwarz-grüne Bündnisse nicht mehr zwingend. Bauchschmerzen beraten den Ökostrategen nur die stabilen Werte der Linkspartei, die in Berlin traditionell stark ist und in Baden-Württemberg erstmals in den Landtag einziehen könnte.

Und in Mecklenburg-Vorpommern wäre für Trittins Truppe die Regierungsbeteiligung nur unter Einschluß der SED-Erben möglich. Doch eine offene Zusammenarbeit scheuen die Grünen zum jetzigen Zeitpunkt. Zu groß ist die Gefahr, daß sich die bürgerlichen Neu-Wähler wieder der FDP zuwenden. Denn die Besserverdienenden in den Villenvierteln lassen sich zwar für Ökoprojekte und Multikultur begeistern – für eine Reichensteuer à la Lafontaine wohl weniger.

[Von Hans Christians / JF 31-32/10]