25. Januar 2022

Fast 700 Christen feierten mit idea das 20-jährige Jubiläum des Mauerfalls

Quelle: ideaSpektrum Nr. 47 vom 18.11.2009

Von links: Dr. Fritz Hähle (CDU-Fraktionsvorsitzender a.D.), Birgit Schlicke (Marketingreferentin, zur DDR-Zeit in Haft), Moderator Halmut Matthies (idea-Leiter), Eberhard Heiße (Diakon, Bürgerrechtler in der DDR, zwei seiner Kinder waren dort in Haft), Dr. Theo Lehmann (Evangelist), Frank Richter (Chef der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Ex-Bürgerrechtler)

Großer Gott, wir loben Dich…

(idea) Die Resonanz war überwältigend: Fast 700 Leser folgten der Einladung der Evangelischen Nachrichtenagentur idea nach Glauchau (Sachsen). Dort fand am 8. November unter dem Motto „Gegen das Vergessen“ eine Festveranstaltung zum 20-jährigen Jubiläum des Mauerfalls statt. Neben viel Freude und Gotteslob gab es auch Erschütterndes: Bei einer Podiumsdiskussion berichteten Betroffene davon, was das DDR-Regime ihnen und ihren Familien antat. idea skizziert die Lebenswege.

 
 
Birgit Schlicke: Ohne meinen Glauben hätte ich das nicht überstanden

Birgit Schlicke war eine von insgesamt 280.000 Bürgern, die in DDR eingesperrt wurden, weil sie eine andere Meinung hatten als das führende SED-Regime. Zwei Jahre und sechs Monate saß sie im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck im Erzgebirge. Weil ihre Eltern einen Ausreiseantrag gestellt hatten, bekam die junge Frau zunächst Bildungsverbot – musste die Oberschule trotz hervorragender Noten verlassen. Zur Begründung hieß es: Sie weiter auszubilden sei für die DDR unökonomisch, da sie das Land ja sowieso verlassen wolle. Eine Lehrstelle bekommt sie auch nicht, arbeitet schließlich aushilfsweise als Briefträgerin. Die Familie wendet sich an die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main. Der Brief gerät in die Hände der Stasi. Das Urteil: Ihr Vater wird zu viereinhalb Jahren verurteilt. Sie, die den Brief lediglich auf der Schreibmaschine abgetippt hat, bekommt zweieinhalb Jahre wegen Landesverrats. Als sie nach Hoheneck eingeliefert wird, sagt ihr eine Wärterin zur Begrüßung: „Zehn Schwerverbrecher sind uns lieber als eine wie du!“ Birgit Schlicke ist die einzige politische Gefangene inmitten von Mörderinnen, Vergewaltigerinnen und ehemaligen KZ-Aufseherinnen. Sie durchlebt die Hölle – Drill, Zwangsarbeit und Schikane. Einziger Halt in dieser furchtbaren Zeit ist ihr Glaube an Gott. Von einer Wärterin verlangt sie eine Bibel – „ohne zu wissen, ob die so etwas überhaupt haben“. Doch die ist so überrascht, dass sie ihr tatsächlich ein Exemplar besorgt. Fortan liest Birgit Schlicke täglich darin und erlebt so etwas wie eine Bekehrung. Die damalige Katholikin: „Ich fand damals einen völlig neuen Zugang zu Gott. Die Psalmen waren mir so tröstlich und mutmachend. Nur aufgrund meines Glaubens habe ich das durchgestanden.“ Den Mauerfall am 9. November 1989 erlebt sie noch hinter Gittern. Erst am 17. November wird sie entlassen. Zwei Wochen später verlässt sie die DDR. Heute lebt sie in Wiesbaden. Ihr Wunsch: Nicht nur an Feiertagen an das Unrecht in der DDR zu erinnern und vor allem keinen vorzeitigen Schlussstrich unter das in der DDR geschehene Unrecht ziehen.

Theo Lehmann: Entschuldigt hat sich keiner!

Er gilt als der meistgehörte Prediger der DDR – Theo Lehmann. Im damaligen Karl-Marx-Stadt (inzwischen wieder Chemnitz) entwickelte er in den 70er Jahren einen Jugendgottesdienst, zu dem bis zu 5.000 Besucher kamen und dessen Konzept später in den alten Bundesländern kopiert wurde. Seine Predigten enthielten auch politische Witze und Gedichte. Viele fand er nach dem Fall der Mauer in seinen Stasi-Akten wieder. Seinen Humor hat er dennoch nicht verloren: „Geradezu mit Stolz erfüllen mich Beobachtungen wie: ‚Lehmann rief mit großer Eindringlichkeit dazu auf, sich unter allen Umständen und ganz gleich in welcher Position zu Gott zu bekennen’ oder ‚Für ihn gilt die Bibel als uneingeschränkt wahr.’“ Geschockt hat ihn allerdings, dass unter den auf ihn angesetzten Spitzeln der Stasi auch Freunde und Bekannte aus seinem engsten Umfeld waren. Hauptspitzel war sein über 30 Jahre lang bester Freund. Auch Pfarrer spionierten Lehmann aus und wurden von der Stasi dafür teilweise mit 300 Mark monatlich – der Hälfte eines Pfarrersgehaltes – entlohnt. Viele von ihnen hat Lehmann später darauf angesprochen. Bittere Erkenntnis: „Entschuldigt hat sich keiner.“ Die Liste der Methoden, die die Stasi aufgestellt hat, um Lehmann zu brechen, ist lang: Anonyme Anrufer sollten mit Gewalt drohen. Lehmann sollte in einen „angeblichen Sittlichkeitsdelikt“ verwickelt werden. In seiner Umgebung sollten „rowdyhafte Handlungen“ begangen werden. Die „Frau des L.“ wollte man „zu ehewidrigem Handeln“ bewegen. Auf ihn selbst sollten dafür „zwei weibliche Mitarbeiterinnen“ angesetzt werden. Die Liste ließe sich fortführen. Dass fast keines dieser Vorhaben funktioniert hat, ist für den heute 75-Jährigen ein Wunder: „Gott selbst hat die Stasi von ihren Vernichtungsplänen abgehalten, denn darum ging es: Verlust des Pfarramtes, Verlassen der Stadt, die Person voll treffen. Ich war Ungeziefer, das zertreten und liquidiert werden musste. Doch Gott hat das verhindert, weil er mich noch als seinen Prediger brauchte.“

Fritz Hähle: Denen widerstehen, die Gott vom Thron stoßen wollen

Er gehörte zu den tausenden von Christen im Osten Deutschlands, die nach dem Fall der Mauer 1989 bereit waren, Verantwortung zu übernehmen – der frühere CDU-Fraktionsvorsitzende im sächsischen Landtag, Fritz Hähle aus Grüna (Chemnitz). „Die friedliche Revolution wäre nicht gelungen, wenn nicht tausende und abertausende Frauen und Männer bereit gewesen wären, Mandate zu übernehmen – ohne zu wissen, was da genau auf sie zukommt.“ Er selbst war einer von ihnen. Bereits zu DDR-Zeiten engagierte sich der promovierte Forschungsingenieur in seiner Kirchengemeinde und im Posaunenchor. Als nach dem Fall der Mauer recht schnell deutlich wurde, dass sich die Technische Universität Chemnitz „nicht von innen umkrempeln lässt“, ging Hähle in die Politik. 1994 wurde er CDU-Fraktionsvorsitzender im Landtag. Als einziger Fraktionschef in einem deutschen Landtag begann er jede Sitzung mit einem Wort aus den Herrnhuter Losungen und Gebet – ein Brauch, den sein Nachfolger Steffen Flath übrigens übernommen hat. Um die Rückbesinnung der Unionsparteien auf ihre christlichen Wurzeln zu fördern, rief Hähle den Johann-Amos-Comenius-Club ins Leben. Allerdings erkennt er auch die Grenzen politischen Wirkens. Auf die Frage, warum die CDU in den vergangenen 20 Jahren nicht noch mehr für die Opfer der SED-Diktatur getan habe, erklärte der Politiker: „Die deutschen Gesetze sind nicht gemacht, um eine Revolution zuende zu führen. Sie orientieren auf Besitzstandswahrung. Mir tut es in der Seele weh, dass wir vielen, die in Haft waren, nicht helfen konnten, aber ehemalige Stasi-Offiziere ihre volle Rente bekommen.“ Zugleich warnte Hähle vor einem weiteren Erstarken der Linkspartei. Vielfach höre er Argumente wie „Die Linkspartei hat doch nichts mehr mit der SED zu tun. Was die heute wollen, ist doch gut“, sagte er. „Die wollen nichts Gutes“, hielt er entgegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten kluge Menschen im Grundgesetz Gott wieder an die erste Stelle gesetzt. “Wenn wir aus der gegenwärtigen Krise herauswollen, müssen wir denen widerstehen, die Gott vom Thron stoßen und aus der Präambel streichen wollen.“

Eberhard Heiße: Tochter in Hoheneck, Sohn im Zuchthaus Brandenburg

Seine Stasi-Akte umfasste mehr als 4.000 Seiten. Die Rede ist von Eberhard Heiße, der viele Jahre als Diakon und Jugendwart der sächsischen Landeskirche in Marienberg (Erzgebirge) tätig war. Sein Engagement dafür, dass junge Menschen etwas vom christlichen Glauben erfahren, war der Staatsmacht ein Dorn im Auge. „Doch einen Mann der Kirche einfach wegzusperren, das war nicht so einfach“, erzählt er in Glauchau. „Bei den Kindern war das schon einfacher.“ Also nahm die Stasi die fünf Kinder von Ehepaar Heiße besonders ins Visier. Sohn Stefan wird schließlich wegen Staatsverleumdung verhaftet und kommt ins Zuchthaus nach Brandenburg. Was er getan hatte? „Er wollte in einem Laden Ersatzteile für sein Moped kaufen. Als es die nicht gab, verließ er den laden mit den Worten: ‚Sch… Land. Immer nur die große Klappe, aber es gibt nichts’“, erzahlt Heiße. Für die Stasi Grund genug zur Verhaftung. Nur wenig später wird auch Tochter Susanne – damals 20 Jahre alt – verhaftet. Nachdem sie ihren Bruder im Zuchthaus in Brandenburg besucht hatte, kam sie zurück und sagte den Eltern nur: „In diesem Land kann ich nicht mehr leben.“ Sie versucht, über Ungarn zu fliehen. Doch sie wird gefasst und ausgeliefert. Sie kommt in den berüchtigten Frauenknast nach Hoheneck. Nach einem Jahr wird sie vom Westen freigekauft. Auch in der Jugendarbeit erlebt Heiße Erschütterndes. Ein junger Mann aus der Jungen Gemeinde nimmt sich das Leben. Offenbar war er als Spitzel für die Stasi angeworben worden. Doch schnell kamen innere Konflikte auf. Er sah keinen anderen Ausweg als den Freitod. Nach einem Gespräch mit dem Landesbischof stellt Heiße Regeln auf, die es den Jugendlichen erleichtern sollen, der Stasi zu widerstehen: Lasst euch nicht erpressen! Nehmt kein Geld! Gebt keine Unterschrift! Sucht sofort das seelsorgerliche Gespräch!

Frank Richter: Ein Staat, der den Geist unterdrückt, wird untergehen

Er sorgte maßgeblich mit dafür, dass die Demonstrationen in Dresden im Oktober 1989 friedlich verliefen. Die Rede ist von Frank Richter – damals katholischer Jugendkaplan, heute Chef der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Bei der entscheidenden Demonstration Anfang Oktober lief der damals 29-Jährige ganz vorn mit. Als die demonstrierenden Massen plötzlich geschlossenen Polizeilinien gegenüberstanden, drohte die Situation zu eskalieren. „Da entschloss ich mich, das Gespräch mit der Polizei zu suchen“, erinnert er sich. „Ich erklärte dem Chef der Einheit: Ich bin überzeugt davon, dass Sie keine Gewalt wollen und ich bin mir sicher, dass diese Menschen hier auch keine Gewalt wollen.“ Dann bat Richter den Polizisten, den Dresdner Oberbürgermeister anzurufen und herzubitten. „Schließlich ist das seine Stadt.“ Die Zeit bis zum Eintreffen des Stadtoberhauptes habe er genutzt, um zu der Menschenmenge zu sprechen. „Da war ein Brunnen, der erhöht war. Ich dachte, wenn ich mich dort hinaufstelle, hören mich die Menschen“, erzählte Richter. „Allerdings war das Wasserrauschen so laut, dass mich niemand verstanden hätte. Plötzlich hörte der Brunnen auf zu sprudeln. Für mich war das ein eindeutiges Zeichen. Es war gegen 20:30 Uhr und wahrscheinlich stellte sich dieser Brunnen um diese Zeit automatisch ab. Aber in diesem Moment steckte für mich jemand anders dahinter“, sagte er in Glauchau und zeigte gen Himmel. In Dresden gehörte er dann zu den Gründungsmitgliedern der „Gruppe der 20“. Später war er u.a. ehrenamtlicher Vorsitzender des Kinder- und Jugendringes Sachsen und ehrenamtlicher Direktor der katholischen Akademie. Eines war ihm immer klar, sagte er in Glauchau: „Ein Staat, der den Geist unterdrückt, wird untergehen müssen.“ Die DDR sei ein klassisches Beispiel gewesen.