22. Mai 2022

Leben mit Geistern und Gott

Quelle: idea e.V. Pressedienst vom 25. Januar 2010 Nr.25

Das religiöse Haiti: Der Voodoo-Kult ist eine staatlich anerkannte Religion

Nach dem Erdbeben steht Haiti im Zentrum der Berichterstattung. Für manche ist die Katastrophe eine Folge der geistlichen Situation des Landes. So bezeichnete der US-Prediger Pat Robertson (Virginia Beach/Bundesstaat Virginia) das Beben als Folge eines Pakts mit dem Teufel. Für seine Äußerungen erntete Robertson viel Kritik. Über die religiöse Situation in Haiti berichtet Tobias-Benjamin Ottmar.

Haiti ist auf den ersten Blick ein frommes Land: Drei Viertel der Bewohner gehören einer
christlichen Glaubensgemeinschaft an. 20 bis 30% gelten als evangelikal. Gleichzeitig hängen laut Schätzungen etwa 70% dem Voodoo an. Die okkulte Religion stammt ursprünglich aus dem westafrikanischen Benin. Ihre Wurzeln hat sie im Spiritismus und in Zauberei. Durch Afrikaner, die als Sklaven nach Haiti verschleppt wurden, kam diese Religion auch in die Karibik. Voodoo ist ein Dämonenkult. An der Spitze des Glaubenssystems steht „Bondye“ (aus dem französischen: Le Bondieu, der liebe Gott). Es geht darum, sich die Kräfte der unsichtbaren Welt zunutze zu machen. Im März 2003 erhob der damalige Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide, ein früherer katholischer Priester, den Voodoo-Kult zu einer staatlich anerkannten Religion. Für das Jahr 2004 wollte er Haiti erneut Satan weihen. Anlass war das Gedenken an einen Aufstand gegen die französische Kolonialmacht. Am 14. August 1791 hatten einige Sklaven – die dem Voodoo anhingen – den Karibikstaat mit einem Tieropfer-Ritual dem Teufel für 200 Jahre versprochen, wenn das Land von der französischen Herrschaft frei werde. Am 1. Januar 1804 erreichte es seine Unabhängigkeit – somit trat der Pakt in Kraft. Der Versuch Aristides, diesen zu erneuern, schlug jedoch dank der Gebete vieler Christen fehl. Allerdings ist Voodoo bis heute eine staatlich anerkannte Religion.

Die Zahl der Christen wächst
Auch wenn viele dem Voodoo anhängen, wächst die Zahl der bibeltreuen Christen. So stieg beim Evangelisch-Baptistischen Missionsverband von Süd-Haiti die Zahl der Gemeinden in den letzten 15 Jahren von 275 auf 488, berichtet Susanne Baerg, die seit 1983 in Haiti als Missionarin der Deutschen Missionsgemeinschaft (DMG) arbeitet. Jeden Sonntag besuchen rund 200.000 Menschen die Gottesdienste.

Angst vor bösen Geistern
Doch auch wenn man sich für ein Leben mit Christus entschieden hat, heißt dies in Haiti nicht, dass man mit den alten Bräuchen nichts mehr zu tun hat, sagt Ulrich Weinhold (Stuttgart), Missionsleiter von Christliche Fachkräfte International (CFI). Seit über 20 Jahren hat das Werk Mitarbeiter in Haiti, die derzeit von ihm betreut werden. Weinhold: „Jesus Christus wird in das System des Voodoo mit eingebaut.“ Die Angst vor bösen Geistern sei auch in christlichen Kreisen alltäglich. Ein Beispiel: In einem Dorf habe eine junge Frau unter epileptischen Anfällen gelitten. Als sie einmal in einem Fluss zum Baden war, habe sie wieder einen Anfall bekommen und ertrank. Der Tod der Frau sei von allen Einwohnern des Dorfes – einschließlich der Christen – mit dem Einfluss böser Geister erklärt worden. Auch bei anderen Vorkommnissen würde dies oft als Begründung angeführt, etwa bei Schlaganfällen. Selbst Straftaten würden unter dem Deckmantel des Voodoo verschleiert. Ein Teil der Bevölkerung sei bis heute der Meinung, dass Dinge – die im Zusammenhang mit Voodoo passieren – straffrei sind, berichtet Missionsleiter Weinhold.

Ein schmutziges Geschäft
Welche Auswüchse die Voodoo-Kulte haben können, weiß Jean Renald Benoit aus der eigenen Familie. Der 33-jährige Haitianer hat gemeinsam mit seiner deutschen Frau und den drei Kindern das Erdbeben hautnah miterlebt. Seit Ende vergangenen Jahres war das Ehepaar für die Kinder-Evangelisations-Bewegung wieder in der Karibik. Nach dem Beben verließen sie auf Anraten der Missionsgesellschaft das Land. Seitdem leben sie bei Benoits Schwiegermutter im fränkischen Selbitz. Die Großeltern von Benoit mütterlicherseits pflegten bis zu ihrem Tod die okkulten Traditionen: „Meine Oma wollte mit dem christlichen Glauben nichts zu tun haben. Sie meinte, sie müsse den Göttern Opfer bringen, damit sie nicht verflucht wird.“ Wer einmal mit diesen Kulten zu tun hat, müsse regelmäßig einen Voodoopriester aufsuchen, damit die bösen Geister einem nichts anhaben können. „Das ist ein Geschäft mit der Angst. Die Priester leben von den Opfern und dem Geld, was die Leute ihnen geben müssen, nachdem sie von ihnen eine Dienstleistung – etwa bei Krankheiten oder um beruflichen Erfolg zu bekommen – erhalten haben. Gleichzeitig werden die Leute besessen, weil der Voodoopriester verschiedene Dämonen um Hilfe ruft.“

Mutter betet Menschen frei
Benoits Eltern haben sich als bibeltreue Christen vom Voodoo distanziert. Immer wieder
kommen bis heute Leute zu seiner Mutter, die von den dunklen Mächten frei werden wollen.
„Mehrmals am Tag wird für sie gebetet, manchmal über Wochen hinweg“, berichtet er. Die Kraft des Gebets hat er selbst erfahren: An seinem zwölften Geburtstag sei er zu Hause plötzlich bewusstlos geworden. Zuvor hatte er sich mit Typhus und Malaria geplagt. Die Eltern beteten zu Gott und brachten ihn in ein Krankenhaus – doch kein Arzt war da. Stattdessen trafen sie auf eine ihnen bis dahin unbekannte Frau, die im Gebet den Auftrag von Gott bekommen hatte, in das Krankenhaus zu gehen, um genau diese Familie zu ermutigen weiterzubeten. Das Wunder geschah: Jean Renald erwachte ohne ärztlichen Eingriff aus seiner Bewusstlosigkeit.

Voodoo: Problem für Christen
Dass seine Eltern sich den okkulten Traditionen verweigern, ist nicht selbstverständlich. Immer wieder sei auch bei Christen die Versuchung da, in einer Notlage vom Voodoopriester Hilfe in Anspruch zu nehmen, berichtet Benoit. Andere entschieden sich für ein Leben als Christ, fielen aber nach einiger Zeit wieder in okkulte Traditionen zurück. Für die Christen ist es angesichts der ständigen Präsenz des Voodoo schwer, sich dem zu entziehen. „Wie der christliche Glaube, so ist auch magisches Denken und Angst vor Schadenszauber alltäglich“, so der Missionar der Deutschen Missionsgemeinschaft Volker Schnüll. Er ist gemeinsam mit seiner Frau seit Ende 2007 in Haiti tätig. In Les Cayes – im Südwesten des Landes – bieten sie Gemeindemitarbeitern und Pastoren eine theologische Ausbildung an. Schnüll berichtet von einer Frau, die ihnen im Glauben eigentlich oft ein Vorbild sei. Doch Ende letzten Jahres warnte sie das Paar davor, um den Jahreswechsel Rindfleisch zu kaufen. Der Grund: Zu dieser Zeit hätten Voodoo-Zeremonien Hochkonjunktur und man wisse nicht, ob man nicht das Fleisch von einem Menschen kaufe, der in eine Kuh verwandelt wurde, so die Frau.

Warum dieses Beben?
CFI-Leiter Weinhold spricht sich dafür aus, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen.
Schließlich spreche auch die Bibel von einem Kampf der unsichtbaren Mächte. Hinsichtlich der Ursachen für das Erdbeben mahnt er aber zur Zurückhaltung. Wenn man dies mit der geistlichen Situation in dem Land begründe, müsse man sich vor Augen halten, „dass wir in Deutschland auch nicht viel besser sind“. Auch Missionar Schnüll hält sich mit einer theologischen Bewertung zurück: Gott wolle nicht den Tod des Sünders, sondern seine Bekehrung. Er leide unter jedem Einzelnen, der sich allen Liebesbemühungen widersetzt. „Das Erdbeben als Gericht? Möglich, aber nicht ohne diese zweite Hälfte der Wahrheit.“

Ein geistlicher Ruck
Benoit hofft nach der verheerenden Katastrophe auf eine Veränderung der geistlichen Situation. Viele würden das Erdbeben als eine Warnung Gottes sehen. „Keine zehn Minuten nach dem Beben waren alle Leute auf der Straße. Viele riefen: ,Bekehrt euch, reinigt euch!’.“ Benoit empfand, es sei ein „geistlicher Ruck“ durchs Land gegangen. Besonders eindrücklich sei gewesen, dass der Regierungspalast in sich zusammenbrach. Der große christliche Buchladen und deren Druckerei hingegen blieben unbeschadet stehen – nur eine Parallelstraße entfernt.

Bekehrungen nach Beben
Inmitten des großen Elends gibt es auch beeindruckende Glaubenszeugnisse. Missionar
Schnüll berichtet von einer Kollegin, die in Port-au-Prince half. Als sie nachts ein Nachbeben aus dem Schlaf aufschreckte, hörte sie um sich herum das Lied „Amazing Grace“ aus vielen Kehlen singen. „Für viele Menschen sind die Kirchen die einzige einheimische Anlaufstelle“, berichtet der Missionar. Zeugnisse von Verschütteten, die sich im Angesicht des Todes bekehrt haben und schließlich gerettet wurden, häuften sich. Seine Missionskollegin Baerg sagt, dass manche einheimische Pastoren meinen, die Katastrophe könnte Gottes Antwort auf ihre Gebete für ihr Land seien. Viele seien zudem dankbar, dass sie von Gott bewahrt wurden und am Leben sind. „Sie leben zwar von der Hand in den Mund. Aber sie sind dankbar, dass Gott sie jetzt versorgt. Und sie vertrauen darauf, dass er sie auch am nächsten Tag versorgen wird.“

Was geschehen muss
Weinhold hofft, dass die Christen in Haiti nach der Katastrophe nun enger zusammenstehen
und selbst Verantwortung übernehmen. In der Vergangenheit habe man sich oft auf die Hilfe von außen verlassen. Auch Benoit wünscht sich eine grundlegende Veränderung des Landes. Er will so bald wie möglich wieder mit seiner Familie zurückkehren, um die christliche Botschaft weiterzuverbreiten. Bis dahin will er die gegenwärtige Aufmerksamkeit nutzen, um auf die Situation seiner Heimat aufmerksam zu machen.