29. Mai 2022

„Wir sind das Volk“ – vor dreißig Jahren

Egmond Prill, Foto: LICHTFANG Kassel

von Egmond Prill

Erinnerungen an damals und Einsichten von heute

Deutschland wird am 3. Oktober 2020 an die offizielle Wiedervereinigung vor dreißig Jahren erinnern. Im Januar 1990 war das noch nicht sicher! Die DDR gab es noch immer, auch den Machtapparat von SED und Stasi. Das Volk war derweil von den Straßen verschwunden und feierte Weihnachten. Nun kam es darauf an die Massen wieder zu wecken und auf die Marktplätze zu bringen und denen in (Ost)Berlin Druck zu machen und das sozialistische Experiment endlich zu Grabe zu tragen.

Die Erzgebirger stimmten ihre Hymne an „deutsch und frei wulln mer sei!“

Und heute? Heute frage viele: Sind wird deutsch und sind wir frei? Oder haben längst die finsteren Geister von damals wieder die Macht ergriffen? Herrschen wieder Angst vor freier Meinungsansage einerseits und zeigt sich offene Lüge andererseits – nicht nur bei SPIEGEL-Relotius? Ahnungslos aufgeputschte Kinder und Jugendliche verlangen heute jenseits demokratischer Entscheidungswege rasches „Durchgreifen“, um das Weltklima zu retten. Sozialistische „Antifa“-Gruppen beherrschen ganze Straßenzüge und Stadtteile, erhalten Beifall von ganz oben. Der Bundespräsident empfiehlt „Feine-Sahne-Fischfilet“.

Katja Meier (Grüne), Justizministerin im Freistaat Sachsen, begleitete vor dreißig Jahren gewaltverherrlichende Texte in der Punkband Harlekins. In einem Lied heißt es: “Advent, Advent, ein Bulle brennt – erst eins, dann zwei, dann drei.“ Kein Problem, damit heute ein Ministeramt in Sachsen zu übernehmen. Nur bei Bischof Rentzing war es anders.

Pfarrer Theo Lehmann erinnerte sich in einem Zeitungsinterview kurz vor Weihnachten an die turbulenten Tage nach dem Mauersturz und an die aufregenden Weihnachtstage damals 1989: „An das eigentlich Weihnachtsfest kann ich mich deshalb auch nicht mehr erinnern. Wohl aber an meine Weihnachtspredigt, die ich in der Chemnitzer Lutherkirche gehalten habe. Es ging um das Kapitel 3 der Offenbarung und das Thema: ‚Wach auf!‘, und ich sagte unter anderem ‚Freiwillig hat die SED uns keinen Millimeter Freiheit eingeräumt. Deshalb müssen wir wachsam sein! Wachsam, damit die nie wieder die Macht kriegen, egal unter welchem Namen sie auftreten.“

Im Januar 1990 waren wir wieder auf der Straße und ich unter anderem auf dem Marktplatz in Schwarzenberg im Erzgebirge mit dieser Ansprache vor Tausenden. „Wir sind das Volk“. Es waren auch damals nur wenige, aber genug wache Leute.

Bürgerinnen und Bürger

ich spreche zu Ihnen als Mit-Bürger,
ich spreche zu Ihnen als Mit-Betroffener,
ich spreche zu Ihnen als Mit-Betrogener,

Die Kommunisten prägten das Wort:

           „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig  weil sie wahr ist.“

 Viele haben das in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten geglaubt. Viele haben es nicht geglaubt und haben sich doch beteiligt. Sie haben mitgemacht. Nur wenige zweifelten.

Inzwischen ist die Schar der Zweifler gewachsen. Nicht zum ersten Mal sind die Menschen im Machtbereich des Kommunismus auf die Straße gegangen. Jetzt besteht zum ersten Mal die Chance, daß sie gewinnen. Die Macht der scheinbar Allmächtigen ist erschüttert worden und ins Wanken gekommen. Gefallen ist sie noch nicht.

Entscheidende Auseinandersetzungen liegen vor uns. Jahre und Jahrzehnte einer verfehlten Wirtschaftspolitik, versäumter Baumaßnahmen und verlogener Volksbildung müssen aufgearbeitet werden.

Die Schule darf nicht mehr und nie wieder ein Ort kommunistischer Volksverdummung sein. Wir brauchen Lehrer, die selber aus ihren Fehlern lernen und einen Neuanfang versuchen. Wir brauchen Eltern und Schüler, die den alten Ungeist aus dem Unterricht verbannen, Pionierleiter und FDJ-Sekretäre, Jugendweihebeauftragte und Politkommissare gehören nicht in die Schule.

Manche wundern sich über ein steigendes Maß an Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen. Ich wundere mich nicht. Die Saat von Jahrzehnten ist aufgegangen, und „was der Mensch aussät, wird er ernten“.

Die Verhetzung der Jugend trägt bittere Früchte. Die Gewalt wendet sich nicht gegen den Klassenfeind, sondern eher gegen den Klassenlehrer; sie wendet sich gegen das alte System und seine Vertreter.

Die Erziehung muß künftig haßfrei geschehen und ohne Haß vor sich gehen, auch ohne Haß gegen Lehrer, die bis vorgestern Genossen der falschen Partei waren.

Die Partei darf nicht länger unsere Schule bestimmen!

Die SED darf in diesem Land überhaupt nichts mehr bestimmen! Die SED muß endlich und endgültig verschwinden!

Wenn das Volk bleiben soll, muß die SED gehen!

Seit Anfang dieses Jahres sind 40 000 Menschen aus der DDR weggegangen. Die Ausreise von Ärzten und Krankenschwestern, von Arbeitern und Wissenschaftlern geht weiter. Hunderttausende oder gar Millionen sind beim Kofferpacken. Spätestens am Tag nach der Wahl treffen diese ihre Wahl.

Wenn die SED geht, dann können wir bleiben.

Nicht nur das Parteiabzeichen muß verabschiedet werden, die gesamte Partei muß sich verabschieden. Wenn die SED nicht von selber verschwindet, brauchen wir ein Gesetz, das sie verbietet.

Die SED muß als verfassungsfeindliche Organisation und als kriminelle Vereinigung verurteilt werden. Auch alle Nachfolgevereinigungen müssen verboten werden.

Das gesamte Vermögen, der Grundbesitz und alle Firmen der SED gehören eigentlich dem Volk. Die durch Waffenhandel und Menschenhandel erworbenen Ostmark- und Westmarkmillionen müssen eingezogen werden.

Die Lehre von Karl Marx und ihre brutale Verwirklichung bei uns und anderswo bescherte der Erde die größten Fluchtbewegungen der Weltgeschichte. Drei bis vier Millionen Menschen verließen seit 1949 die DDR, Millionen flohen aus Polen und anderen Ländern des Ostens. Viele Millionen sind innerhalb Afrikas unterwegs; Menschen fliehen aus China, Kambodscha und Vietnam.

Die Flucht vor dem Kommunismus wird zu Ende gehen, wenn der Kommunismus von der Erde gegangen ist!

Eines will ich als Christ bekennen: Wir müssen uns vom Kommunismus abwenden, aber wir müssen uns den Kommunisten zuwenden.
Wir dürfen jetzt und künftig keine Menschen bedrohen und keinen bespitzeln.
Ich will helfen, daß Menschen sich selbst und ihre Verfehlungen erkennen.

Behutsame Umerziehung und menschlicher Umgang, wachsendes Vertrauen und schlichte Vergebung allein können uns und allen Menschen helfen. Für den Aufbau einer Demokratie brauchen wir jeden Menschen. Die Freiheit können wir uns nur gewaltfrei erobern.

Ich erinnere an ein Wort von Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt:
„Nach Eurem Meisterwerk der Gewaltlosigkeit erhoffen wir von Euch Deutschen in der DDR ein Meisterwerk der Umsicht, der Beharrlichkeit und der Geduld.“

Wir werden geduldig und zugleich beharrlich sein und bleiben.

Die Lehre von Karl Marx erwies sich als ohnmächtig, denn sie ist unwahr. Diese Weltanschauung läßt sich nicht verbessern, man kann sie nur vergessen.

Wir brauchen weder Marxismus noch Leninismus; wir brauchen weder Stalinismus noch Maoismus. Wir brauchen überhaupt kein MUSS, wir brauchen Demokratie.

Demokratie immer – Kommunismus nimmer!

Egmond Prill

(Wort zur friedlichen Kundgebung in Schwarzenberg, 22. Jan. 1990)

Januar 2020 ©Egmond Prill – Alle Rechte vorbehalten.
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