19. Januar 2022

„Deutsch und frei woll‘n wir sein“

Egmond Prill. Foto: egmond-prill.de

Von Egmond Prill

Damals war es, am 22 Januar 1990 in Schwarzenberg im Erzgebirge, als ich die unten dokumentierte Rede auf dem Marktplatz hielt. Noch war der Neuanfang in der ehemaligen DDR jung, die zu der Zeit sogar noch so hieß. Nach Mauerfall und Grenzöffnung hatte die alte Garde weitgehend abgedankt.

Freilich, so wirklich Neues war noch nicht gefestigt. Viele in den Bürgerbewegungen waren von der Sorge geprägt: Was ist, wenn das doch alles wieder kippt, die alten Seilschaften neu die Strippen ziehen und Schlingen auswerfen?

Diese Sorge war nicht unbegründet. Am 28. Dezember 1989 hatten Unbekannte am „Sowjetischen Ehrenmal“ im Ostberliner Stadtteil Treptow antikommunistische Parolen an die Wände geschmiert. Die noch immer amtierende SED unter Gysi schrie sofort im Tenor: Die Rechten kommen. Gefahr für das Land durch die Demonstrationen des Volkes und die Wende. Die Nazis stehen vor der Tür! Am 3. Januar 1990 wurde eine „Gegendemonstration“ inszeniert – ein Massenauflauf von gut 200.000 Sozialisten, Gewerkschaftern und Ewiggestrigen.

Das kommt mir angesichts der gegenwärtigen „Gegendemonstrationen“, die friedliche Spaziergänge patriotischer Bürger niederbrüllen, irgendwie bekannt vor. Krawalliger linker und linksextremer „Antifa“-Ungeist gegen gewaltfreie Willensbekundung freier Bürger. Damals machte recht schnell die Vermutung die Runde: Und wenn die SED selber die Sprüche…

Darum war es wichtig, dass die Bürgerbewegung nach der Weihnachtspause im Januar 1990 wieder Gesicht zeigte und Massen mobilisierte. Dresden, Leipzig, Chemnitz waren die großen Städte in Sachsen. Die damaligen Kreisstädte im Erzgebirge waren jedoch nicht weniger aktiv. Bürgerrechtler riefen Zehntausende auf die Straßen und Plätze: „Wir sind das Volk!“ und „Wir sind ein Volk!“. Oft begleitet von Gebeten und Gesängen – meist am Schluss mit dem Lied des erzgebirgischen Volksdichters Anton Günther (1876 – 1937).

Heil eich, ihr deitschen Brüder! Grüß Gott viel tausend Mol !
Auf, singt deitsche Lieder, deß rauscht von Barg ze Tol.
Denn’s gilt ja onnrer Haamit in alter deitscher Trei;
losst’s weit ins Land nei klinge, dass mer Arzgebirger sei.
Deitsch on frei wolln mer sei, unn do bleib‘n mer aah derbei,
weil mer Arzgebirger sei!

Egmond Prill – Wort zur friedlichen Kundgebung in Schwarzenberg, 22. Januar 1990:

Bürgerinnen und Bürger!

Ich spreche zu Ihnen als Mit-Bürger,
ich spreche zu Ihnen als Mit-Betroffener,
ich spreche zu Ihnen als Mit-Betrogener,
Die Kommunisten prägten das Wort:
„Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig weil sie wahr ist.“

Viele haben das in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten geglaubt. Viele haben es nicht geglaubt und haben sich doch beteiligt. Sie haben mitgemacht. Nur wenige zweifelten. Inzwischen ist die Schar der Zweifler gewachsen. Nicht zum ersten Mal sind die Menschen im Machtbereich des Kommunismus auf die Straße gegangen. Jetzt besteht zum ersten Mal die Chance, dass sie gewinnen. Die Macht der scheinbar Allmächtigen ist erschüttert worden und ins Wanken gekommen. Gefallen ist sie noch nicht.

Entscheidende Auseinandersetzungen liegen vor uns. Jahre und Jahrzehnte einer verfehlten Wirtschaftspolitik, versäumter Baumaßnahmen und verlogener Volksbildung müssen aufgearbeitet werden. Die Schule darf nicht mehr und nie wieder ein Ort kommunistischer Volksverdummung sein. Wir brauchen Lehrer, die selber aus ihren Fehlern lernen und einen Neuanfang versuchen. Wir brauchen Eltern und Schüler, die den alten Ungeist aus dem Unterricht verbannen, Pionierleiter und FDJ-Sekretäre, Jugendweihebeauftragte und Politkommissare gehören nicht in die Schule. Manche wundern sich über ein steigendes Maß an Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen. Ich wundere mich nicht. Die Saat von Jahrzehnten ist aufgegangen, und „was der Mensch aussät, wird er ernten“.

Die Verhetzung der Jugend trägt bittere Früchte. Die Gewalt wendet sich nicht gegen den Klassenfeind, sondern eher gegen den Klassenlehrer; sie wendet sich gegen das alte System und seine Vertreter. Die Erziehung muss künftig hassfrei geschehen und ohne Hass vor sich gehen, auch ohne Hass gegen Lehrer, die bis vorgestern Genossen der falschen Partei waren.

Die Partei darf nicht länger unsere Schule bestimmen! Die SED darf in diesem Land überhaupt nichts mehr bestimmen! Die SED muss endlich und endgültig verschwinden! Wenn das Volk bleiben soll, muss die SED gehen!

Seit Anfang dieses Jahres sind 40 000 Menschen aus der DDR weggegangen. Die Ausreise von Ärzten und Krankenschwestern, von Arbeitern und Wissenschaftlern geht weiter. Hunderttausende oder gar Millionen sind beim Kofferpacken. Spätestens am Tag nach der Wahl treffen diese ihre Wahl.

Wenn die SED geht, dann können wir bleiben. Nicht nur das Parteiabzeichen muss verabschiedet werden, die gesamte Partei muss sich verabschieden. Wenn die SED nicht von selber verschwindet, brauchen wir ein Gesetz, das sie verbietet.

Die SED muss als verfassungsfeindliche Organisation und als kriminelle Vereinigung verurteilt werden. Auch alle Nachfolgevereinigungen müssen verboten werden.

Das gesamte Vermögen, der Grundbesitz und alle Firmen der SED gehören eigentlich dem Volk. Die durch Waffenhandel und Menschenhandel erworbenen Ostmark- und Westmarkmillionen müssen eingezogen werden.

Die Lehre von Karl Marx und ihre brutale Verwirklichung bei uns und anderswo bescherte der Erde die größten Fluchtbewegungen der Weltgeschichte. Drei bis vier Millionen Menschen verließen seit 1949 die DDR, Millionen flohen aus Polen und anderen Ländern des Ostens. Viele Millionen sind innerhalb Afrikas unterwegs; Menschen fliehen aus China, Kambodscha und Vietnam. Die Flucht vor dem Kommunismus wird zu Ende gehen, wenn der Kommunismus von der Erde gegangen ist!

Eines will ich als Christ bekennen: Wir müssen uns vom Kommunismus abwenden, aber wir müssen uns den Kommunisten zuwenden. Wir dürfen jetzt und künftig keine Menschen bedrohen und keinen bespitzeln. Ich will helfen, dass Menschen sich selbst und ihre Verfehlungen erkennen. Behutsame Umerziehung und menschlicher Umgang, wachsendes Vertrauen und schlichte Vergebung allein können uns und allen Menschen helfen. Für den Aufbau einer Demokratie brauchen wir jeden Menschen. Die Freiheit können wir uns nur gewaltfrei erobern. Ich erinnere an ein Wort von Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt: „Nach Eurem Meisterwerk der Gewaltlosigkeit erhoffen wir von Euch Deutschen in der DDR ein Meisterwerk der Umsicht, der Beharrlichkeit und der Geduld.“

Wir werden geduldig und zugleich beharrlich sein und bleiben. Die Lehre von Karl Marx erwies sich als ohnmächtig, denn sie ist unwahr. Diese Weltanschauung lässt sich nicht verbessern, man kann sie nur vergessen.
Wir brauchen weder Marxismus noch Leninismus; wir brauchen weder Stalinismus noch Maoismus. Wir brauchen überhaupt kein MUSS, wir brauchen Demokratie.

Demokratie immer – Kommunismus nimmer!

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