28. Mai 2022

Sind Islam und demokratischer Rechtsstaat miteinander vereinbar?

Quelle: ead.de

Pressemeldung des Instituts für Islamfragen der Evangelischen Allianz

Foto: twenty_four/pixelio.de

B O N N (28. November 2011) Sind Islam und demokratischer Rechtsstaat miteinander vereinbar? Führt der Sturz der Diktatoren in der arabischen Welt zum Aufbruch in eine moderne Zivilgesellschaft mit gleichen Rechten für alle Bürger? Diese Fragen stellen sich vielen Beobachtern angesichts der aktuellen Entwicklungen in Tunesien, Libyen, Ägypten und anderen arabischen Ländern. Laut dem Islamwissenschaftler Carsten Polanz vom Institut für Islamfragen lassen sich drei verschiedene Strömungen ausmachen, die von der totalen Ablehnung der Demokratie als einer verderblichen Erfindung des Westens über die Nutzung demokratischer Rechte und Freiheiten zur schrittweisen Islamisierung der Gesellschaft bis hin zur Forderung nach einer klaren Trennung von Staat und Religion reichen. Vertreter dieser Forderung leben allerdings bis heute in vielen islamischen Ländern gefährlich und haben bisher an den großen theologischen Institutionen keinerlei Einfluss.

Demokratie als „Satanswerk“ und „Lehre des ungläubigen Westens“

Abu al-Ala al-Maududi (1903-1979), der Gründer der bis heute vor allem in Pakistan einflussreichen islamistischen Bewegung „Jama’at-i Islami“, beschrieb die Demokratie als „Satanswerk“. In Anspielung auf den bereits im Alten Testament beschriebenen Sündenfall schrieb er: „Was tat Satan? Satan flüsterte den ersten Menschen ein, er könne die Gesetze Allahs missachten und seine eigenen Pläne verfolgen. Und genau dies tut der Westen im Namen der Demokratie. Er sagt den Menschen: Es ist nicht nötig, dass ihr dem göttlichen Gesetz gehorcht, ihr könnt eure eigenen Menschengesetze machen, indem ihr abzählt, wie viele mit euren Plänen einverstanden sind. Dies ist eine tödliche Gefahr, die der Islam bekämpfen muss, nicht nur auf seinem eigenen Gebiet, sondern auf der ganzen Welt.“

Als die ägyptischen Muslimbrüder in den 1940er und 1950er Jahren mit ihrer islamistischen Agenda immer stärker mit der Staatsgewalt in Konflikt gerieten, radikalisierten sich viele ihrer Anhänger in den Gefängnissen. Einer ihrer bis heute einflussreichsten Vordenker, Sayyid Qutb (1906-1966), definierte islamische Freiheit als „Ablehnung aller Arten und Formen von Systemen, die auf dem Konzept der Souveränität des Menschen basieren“. Für Qutb war daher jedes System, „in dem die letzte Entscheidung auf Menschen zurückgeführt wird und in dem die Quellen der Autorität menschlich sind“, abzulehnen. Nach seiner Interpretation steht ein solches System im krassen Widerspruch zum Islam, in dem die Menschen allein Gott und nicht anderen Menschen dienen sollen. Auch Ali Benhadj, einer der Führer der algerischen „Front Islamique du Salut“ lehnt die Demokratie vor allem deshalb ab, weil sie „auf der Meinung der Mehrheit beruht“. Die „Leute der Sunna“ glaubten dagegen, „dass das Recht […] nur aus den entscheidenden Zeugnissen der Scharia erkannt werden kann.“ Sein Fazit lautet: „Wir verwerfen die Demokratie, die die Lehre des ungläubigen Westens ist.“

Strategiewechsel: Islamische Demokratie unter dem Vorbehalt der Scharia

Eine zunehmende Zahl von Islamisten hat jedoch in den letzten Jahren erneut einen Strategiewechsel vollzogen. Sie verweisen vor allem auf den Aufruf zur „Beratung“ (arabisch „Schura“) in Sure 3,159, um ihre häufig sehr vagen Vorstellungen von Demokratie als urislamisches Konzept darzustellen. Darauf machte auch der 2010 verstorbene ägyptische Literaturwissenschaftler Abu Zaid aufmerksam, der selbst aufgrund seiner historisch-kritischen Koranauslegung 1995 von einem ägyptischen Gericht als Häretiker verurteilt worden war: „Inzwischen aber haben sogar die Islamisten im Koran das Prinzip Demokratie entdeckt, ohne die es auch für sie keine Meinungsfreiheit, sondern Verfolgung gibt. Daher sagt heute jeder: Wir wollen Demokratie. Wir brauchen Freiheit.“ Führende Islamisten ziehen es heute vor, die Freiheiten und Möglichkeiten der Demokratie zur schrittweisen Durchsetzung islamischer Werte und Rechtsvorstellungen zu nutzen. Statt der Alles-oder-Nichts-Strategie beabsichtigen sie eine langfristige ideologische Durchdringung der als ungläubig oder abgefallen geltenden Gesellschaften und sind auf dem Weg dorthin zu Kompromissen und Zwischenlösungen bereit. Einer ihrer Protagonisten, der ägyptische Fernsehprediger und Internetmufti Yusuf al-Qaradawi, steht für ein sog. Konzept der Mitte. Dabei geht es um eine Art Mittelweg zwischen den Säkularisten, die die politische Durchsetzung der Scharia komplett ablehnen, einerseits und den Jihadisten, die ihr von heute auf morgen gewaltsam Geltung verschaffen wollen, andererseits. Der Islam soll dabei auch die Mittel nutzen, die der Westen nach einer langen Geschichte der Auseinandersetzung mit ungerechter Herrschaft entwickelt habe. Dazu zählt al-Qaradawi unter anderen die Gewaltenteilung, die gewählten Parlamente, die Parteien und die Pressefreiheit, die Opposition und die Rechenschaftspflicht des Herrschenden. Laut Polanz hat das Ganze allerdings einen entscheidenden Haken: Um muslimische Vorbehalte gegenüber der Demokratie zu überwinden, schlägt al-Qaradawi vor, dass „jedes Gesetz, das den unanfechtbaren Bestimmungen des Islam widerspricht, null und nichtig ist.“ Damit hält auch al-Qaradawi am Ideal der Einheit von Staat und Religion aus der Zeit Muhammads in Medina fest. Die von diesen Islamisten geforderten Freiheiten und Menschenrechte stehen von vornherein unter dem Vorbehalt der Scharia. Zudem bleibt meist offen, wer an der Auslegung der Scharia beteiligt und wie streng oder flexibel einzelne Vorschriften interpretiert werden sollen.

Islamisierung westlicher Konzepte und Begriffe

Al-Qaradawi ist eine Gallionsfigur für die Mainstream-Islamisten, zu denen auch Raschid al-Ghanouschi und seine an-Nahda-Partei gehört, die bei den letzten Wahlen in Tunesien mehr als 40 Prozent der Stimmen gewann. Sowohl al-Qaradawi als auch al-Ghanouschi sind für ihren „doppelten Diskurs“ bekannt. In einem seiner jüngsten Werke warnt al-Qaradawi Muslime vor der Isolation vom Rest der Welt und ruft sie vielmehr zu einer kulturellen und zivilisatorischen Interaktion auf. Muslime sollten aufgrund ihrer eigenen Philosophie entscheiden, was sie vom Westen annehmen und was sie verwerfen, und dies dann mit ihrem eigenen moralischen und kulturellen Geist, Charakter und Erbe zusammenbringen, damit es zu einem Teil ihres intellektuellen und moralischen Systems wird und seinen ursprünglichen Charakter verliert. Al-Qaradawi propagiert damit im Grunde eine Islamisierung des westlichen Demokratie- und Menschenrechtsverständnisses, indem die muslimischen Aktivisten die westlichen Institutionen und Begriffe nicht grundsätzlich ablehnen, sondern mit neuem Inhalt füllen. Dieser Strategie entsprechend ist es Islamisten möglich, einerseits in die Rufe nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit einzustimmen, andererseits aber am politischen Herrschaftsanspruch des Islam und der Überordnung der Scharia festzuhalten

Wer öffentlich die Trennung von Staat und Religion fordert, lebt gefährlich

Einzelne Reformstimmen, die sich in den letzten Jahren deutlich für eine Trennung von Staat und Religion und einen kritischeren Umgang mit dem zeitlosen Vorbildcharakter Muhammads ausgesprochen haben, werden in ihren Heimatländern in der Regel heftig angegriffen und teilweise sogar staatlich verfolgt. Eines der bekanntesten Beispiele ist der ägyptische Intellektuelle Farag Foda. In seinem Buch „Die vergessene Tatsache“ widersprach er der islamistischen Argumentation, dass die Anwendung der Scharia eine „sofortige Gesundung der Gesellschaft und eine sofortige Lösung ihrer Probleme“ bringen würde. Foda forderte anstelle des Religionsstaates den Zivilstaat und ein Regulativsystem, „das den Machthaber im Falle von Fehlern und unzulässigen Handlungen zur Rechenschaft zieht, das seine Absetzung bewirken kann, sofern er den Interessen der Gemeinschaft schadet.“ Am 8. Juni 1992 wurde Foda vor seinem Haus von radikalen Islamisten ermordet. Ägyptische Gelehrte der einflussreichen al-Azhar-Universität in Kairo rechtfertigten als Zeugen der Verteidigung die Ermordung Fodas. Demnach hatten die Mörder den „Apostaten“ Foda lediglich der für ihn schariarechtlich vorgesehenen Strafe zugeführt und damit das getan, was eigentlich der Staat bereits hätte tun sollen. Auch der iranische Philosoph Abdulkarim Soroush setzt sich heute für eine Trennung von Staat und Religion ein. Nachdem er anfangs ein Verfechter der islamischen Revolution und Mitarbeiter Khomeinis war, spricht er sich heute deutlich gegen die „religiöse Diktatur“ der Mullahs und für eine „religiöse Demokratie“ aus. Der Koran ist für ihn nur noch in religiösen Dingen unfehlbar, der Zweifel am umfassenden Vorbildcharakter Muhammads kein Tabu mehr. Indem er zwischen der göttlichen Wahrheit und dem unvollkommenen menschlichen Wissen von ihr unterscheidet, erteilt er der politischen Umsetzung der Scharia eine klare Absage. Jeder Bürger soll nach den moralischen Grundsätzen seiner Religion leben dürfen, ohne vom Staat per Gesetz dazu gezwungen zu werden. Im Unterschied zu den oben genannten Islamisten fordert Soroush „eine demokratische Ordnung, die allen Bürgern gleiche Rechte garantiert, das Recht auf politische Teilhabe wie auch alle anderen Rechte, die ein demokratisches Regime erfordert.“ Dabei geht es ihm vor allem um „die Schaffung einer unabhängigen Justiz, die der größte Stützpfeiler eines jeden demokratischen Regimes ist.“ Einflussreiche Ayatollahs werfen Soroush bereits Abfall vom Glauben vor. Immer wieder wurden seine Vorlesungen von Schlägertrupps gestürmt. Der Staat sprach ein Lehr- und Publikationsverbot aus. Einen Zivilstaat anstelle des Religionsstaates wünschen sich vermutlich auch die meisten jungen Leute, die die Revolutionen in Tunesien und Ägypten begonnen und getragen haben, die aber politisch kaum organisiert sind und deshalb bei Wahlen schlechte Chancen haben. Laut Polanz wird sich eine entscheidende Wende zu wirklicher Demokratie und umfassenden Freiheitsrechten für Andersdenkende, Minderheiten oder Konvertiten in den arabischen Gesellschaften nur dann ergeben, wenn die islamische Theologie das Ideal eines islamischen Staates als Garant der Religion aufgeben und sich für eine freie Zivilgesellschaft und volle Religionsfreiheit aussprechen würde. Das scheint derzeit nicht in Sicht zu sein, so Polanz.

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