29. Januar 2022

Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit steht noch aus

Quelle: idea.de

DDR-Flagge

Kassel (idea) – Eine Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit steht noch aus. Dieser Meinung ist der frühere Vorsitzende des Evangelisch-Kirchlichen Gnadauer Gemeinschaftswerks in der DDR, Inspektor i.R. Hans-Joachim Martens (Woltersdorf bei Berlin).

Die pietistische Dachorganisation vereinigte sich 1991 mit dem westdeutschen Gnadauer Verband zum Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband (Vereinigung Landeskirchlicher Gemeinschaften). In einem Interview mit dem in Kassel erscheinendem Gnadauer Magazin äußerte sich Martens zum Mauerfall vor 20 Jahren. Dieser sei für ihn eine „ungeheure Befreiung“ gewesen vom „Unrechts- und Zwangssystem der SED-Diktatur“. Evangelische Gemeinden hätten entscheidenden Anteil am Wunder der friedlichen Revolution gehabt, weil sie Oppositionsgruppen ihre Kirchen geöffnet hätten. Deshalb könne man auch von einer „protestantischen Revolution“ sprechen. Zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte fehle den „alten Kadern“, die zum Teil noch an den Hebeln der Macht säßen, die Bereitschaft. Diese Kreise präsentierten sich publikumswirksam in Talks-Shows oder gebärdeten sich „in ihren Chefsesseln ärger als die schlimmsten Manchester-Kapitalisten“. Ehemalige hohe Stasi-Funktionäre forderten die Deutungshoheit über ihr menschenverachtendes System. Besonders perfide sei es, dass sie mit dem Rechtsstaat drohten, „wenn ihr Vorgehen von aufrechten Bürgerrechtlern zurückgewiesen wird“.

Für Freiheit engagieren
Martens fragt: „Warum wird das hingenommen oder nicht mehr registriert?“ Wieder einmal bleibe die Freiheit auf der Strecke. Hier hätten Eltern, Bildungsträger, Gemeinden und Gemeinschaften eine große Aufgabe. Man brauche Kritiker, die sich nicht nur mit Worten, sondern mit ihrer ganzen Existenz einbrächten in den Aufbau einer freiheitlichen Gesellschaft. Dazu hätten gerade Christen im Osten Deutschlands in den ersten Jahren nach der friedlichen Revolution nachhaltige Beiträge geleistet, etwa bei Runden Tischen.

Innere Kluft wächst
Nach Einschätzung von Martens ist die innere Kluft zwischen Ost und West größer geworden: „Mich schmerzt es, wenn sich laut Umfragen nicht wenige die Mauer wieder zurückwünschen. Wenn ganze Landstriche veröden, weil agile jüngere Leute nur noch im Westen Arbeit finden.“ Ihm tue es auch weh, wie Ostdeutsche über Westdeutsche redeten und umgekehrt. Der Theologe ruft zugleich dazu auf, den Blick für das zu weiten, was in den vergangenen 20 Jahren an Gutem gewachsen sei. Er denke dabei etwa an die Geldströme, die aus den alten in die neuen Bundesländer geflossen sind. Martens: „Wer immer nur durch die dunkle Brille sieht, erkennt nicht mehr, dass die Welt schöner und bunter geworden ist und auch in Zukunft nur gemeinsam gestaltet werden kann.“ Zur Frage, wie man heute von der Freiheit predigen kann, rät der Theologe: „Predige das Wort – zur Zeit und zur Unzeit – nicht nur in die frommen Herzen hinein – sondern mit weit geöffneten Fenstern zur Welt. Dann aber, auch nur dann, wird es seine befreiende Sprengkraft erweisen. Als ‚Revolution der Gebete und Herzen’ – wie im Herbst 1989.“