Thierse: DDR-Kirchen waren Übungsraum für Demokratie

Quelle: idea.de
B e r l i n (idea) – Die Kirchen in der DDR waren ein Übungsraum für die Demokratie. Etliche Christen haben bis zur friedlichen Revolution 1989 darauf gewartet, endlich politische Verantwortung übernehmen zu können. Darauf hat Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) auf einer Tagung zur „Rolle der Kirchen als Wegbereiter der friedlichen Revolution 1989“ am 21. April in Berlin aufmerksam gemacht.

Die Veranstaltung wurde von der Evangelischen Medienarbeit der EKD, der Bruderhilfe Pax Familienfürsorge und dem Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) ausgerichtet. Allerdings seien von den einst politisch Aktiven nur wenige übrig geblieben, so Thierse. Vielen sei es nicht gelungen, die großen Träume und Visionen, die sie in der DDR angesammelt hatten, in das Kleingeld der Demokratie umzumünzen. Auch in der DDR habe man als Christ mit Kompromissen leben müssen. Es sei daher verrückt, sich heute dafür rechtfertigen zu müssen, in der DDR geblieben zu sein. Thierse: „Das System ist gescheitert, aber nicht die Menschen, jedenfalls nicht alle.“ Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhardt (Bündnis 90/Die Grünen) sagte, man könne zwar nicht mit der Bergpredigt eine Gesundheitsreform machen, jedoch sei es schizophren, seine Glaubensüberzeugungen von der Politik zu trennen.

Fasten und Beten als Basis der friedlichen Revolution
Der frühere Generalsuperintendent des Sprengels Berlin, Martin-Michael Passauer, sagte, Beten und Fasten seien die Basis für die friedliche Revolution in der DDR gewesen. Die Christen hätten durch Gelassenheit und Fröhlichkeit der machtstrotzenden Staatsmacht die Autorität genommen. Durch das flächendeckende Netz der Kirche hätten sich wichtige Ereignisse trotz der Geheimhaltungsversuche des Staates innerhalb weniger Stunden unter Christen herumgesprochen. Zudem hätten die Kirchen Räume, Telefone und Kopiermaschinen bereitgestellt, ohne die die Planung von Demonstrationen kaum möglich gewesen wäre. Die Westmedien seien ein wichtiger Partner der Kirchen gewesen. Sie hätten fair und ohne Personen zu gefährden berichtet. Der Transport von Nachrichten sei eine starke Waffe in der Auseinandersetzung mit dem Staat gewesen.

Kirchen an vielen Orten an friedlicher Revolution beteiligt
Der katholische Bischof Joachim Wanke (Erfurt) bezeichnete die friedliche Revolution als ein dezentrales Geschehen an vielen Orten. Oft seien die Kirchen dabei der Ausgangspunkt gewesen. Allerdings habe die katholische Kirche aus den zwei deutschen Diktaturen die Lehre gezogen, dass der Klerus politisch nicht aktiv werden solle. Die erste Aufgabe der Kirche sei es, die Gläubigen für das christliche Leben zuzurüsten sowie Seelsorge und karitative Arbeit zu leisten.

„Kirchen drehten an den Stellschrauben der Revolution“
Joachim Jauer, ZDF-Korrespondent in der DDR und Redaktionsleiter der früheren Sendung „Kennzeichen D“, sagte, er sei in fast jedes ihm offen stehende evangelische Pfarrhaus gegangen. um eine andere Meinung als die der Partei- und Staatsführung der DDR zu hören. Zudem sei bei evangelischen Synoden der gesamte Klagen- und Mängelkatalog der DDR zur Sprache gekommen. Jauer: „Die Kirchen haben sehr eindeutig an den Stellschrauben der Revolution gedreht.“

„Je länger die DDR tot ist, desto schöner wird sie.“
Christhard Läpple, seit 1985 ZDF-Korrespondent in Berlin, sagte, leider habe sich der Satz des 1997 verstorbenen Schriftstellers Jurek Becker bewahrheitet: „Je länger die DDR tot ist, desto schöner wird sie.“ Viele Westdeutsche verharrten heute in Selbstgerechtigkeit, viele Ostdeutsche in Trotz. Die Kirchen hätten die Aufgabe, das Gespräch um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte wieder in Gang zu bringen und zu versachlichen.